Interview mit Silke Boll
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Im Rahmen des Aktionstags „Vorsicht Vorurteile“ am 18. März setzten wir uns mit Sille Boll zusammen um über Barrierefreiheit, Alltagserfahrungen und Vorurteile zu sprechen.
Anaïs: Möchtest du dich erstmal vorstellen?
Sille: Mein Name is Silke Boll. Ich bin Lehrerin, Rentnerin, Mutter von zwei Söhnen, inzwischen schon Oma, Ehefrau, Hobbygärtnerin, Paralympic-Siegerin, seit 21 Jahren Falkenseerin, eigentlich Schleswig-Holsteinerin und ich bin rollend unterwegs und vor 63 Jahren als behindertes Kind auf die Welt gekommen. Mein Leben hat durch meine Behinderung Wendungen eingeschlagen, die es ohne meine Behinderung mit Sicherheit nicht gegeben hätte und über die bin ich sehr froh. Ich lebe gut damit und mir geht es super. Mein Leben war toll, bisher.
**Anaïs: Du bist ja im Teilhabebeirat der Stadt aktiv. Kannst du kurz erklären was das heißt und was ihr da macht? **
Sille: Falkensee hat 3 Beiräte. Den Jugendbeirat, den Seniorenbeirat und den Beirat für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Langer Titel, aber es ist uns wichtig, dass wir nicht „Die Behinderten“ genannt werden. Wir sind 7 Leute und beraten die Stadtverordnetenversammlung und die Ausschüsse. Wir passen auf, dass unsere Anliegen nicht vergessen werden und dass wir nicht behindert werden.
**Anaïs: Ihr setzt euch ja viel für Barrierefreiheit ein. Was bedeutet das und was können denn Barrieren sein? **
Sille: Menschen mit Behinderung sind alle ganz verschieden. Für mich wären Barrieren Treppen, erhöhte Bordsteine oder dass ich mich vor dem Zugfahren anmelden muss, weil ich nicht einfach reinrollen kann.
Anaïs: Wie ist das denn, wenn du bei einer Veranstaltung teilnehmen möchtest und die findet in einem Haus mit Treppe statt. Kannst du dann gar nicht teilnehmen?
Sille: Da kann ich eine schöne Geschichte erzählen. Das Falkenseer Rathaus hatte früher keinen Aufzug. Als ich das erste Mal bei einer Stadtverordnetenversammlung teilnehmen wollte habe ich mir den Rollstuhl hochtragen lassen und bin die Treppen hochgerutscht. Das funktioniert, ist aber keine würdige Art zur Veranstaltung zu kommen. Das habe ich dann dreimal gemacht und dann wurde dem Bürgermeister das peinlich und er hat dafür gesorgt, dass die Feuerwehr kam und mich mit fünf Mann dahochgetragen haben. Irgendwann wurden die Sitzungen dann in die Aula der Kant-Schule verschoben. Als das Rathaus umgebaut wurde kam dann ein Aufzug rein. Das wäre mit Sicherheit irgendwann passiert, aber bestimmt erst später. Das passiert wenn man sich einbringt, wenn man sagt ich bin da und natürlich mache ich mit. Man muss sich aktiv dazwischendrängeln.
**Anaïs: Wir wollen ja auch über Vorurteile reden. Gibt es Vorurteile, die dir begegnen? **
Sille: Es ist so: Wer mich nicht kennt, der denkt natürlich erstmal „Och, die Arme“. Niemand würde mir zutrauen, was ich schon gemacht habe. Ich würde sagen ich habe ein sehr normales Leben geführt und mich von meiner Behinderung einfach nicht beeindrucken lassen und mir gesagt ich mach das, was ich will. Als ich noch jünger war wurde ich oft gefragt „Arbeiten Sie denn noch?“. Da wusste ich natürlich, dass die Frage mit meiner Behinderung zusammenhängt und habe immer gefragt „Seh ich schon so alt aus?“ An der Kasse werde ich dauernd gefragt, ob ich vorher drankommen möchte. Dann sag ich: „Ach danke, das ist sehr nett, aber ich sitze doch viel gemütlicher. Ich habs gut ich muss nicht stehen.“
Anaïs: Woran liegt das? Kann es sein, dass die meisten Menschen selten Menschen im Rollstuhl begegnen und deshalb nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen?
Sille: Mit Sicherheit. Ich bin ja Lehrerin in einer Grundschule in Spandau. Sonderschullehrerin, aber an der Regelschule. Wir haben immer Kinder mit Behinderung dabei und bei uns an der Schule findet es niemand komisch, dass es rollende Kinder und eine rollende Lehrerin gibt. Wie soll man, wenn man nie mit Kindern mit Behinderung aufgewachsen ist, als Entscheidungsträger Entscheidungen für Inklusion treffen?
Anaïs: Was ist dir bei einer Begegnung mit fremden Menschen am wichtigsten?
Sille: Dass sie mir in die Augen gucken und nicht den Rollstuhl anschauen. Ich möchte gerne angelächelt und angeschaut werden, sodass es eine persönliche Begegnung ist und keine „Helfer-Begegnung“.
Anaïs: Das Wort „behindert“ wird ja auch oft als Schimpfwort genutzt. Wie stehst du dazu und ist das überhaupt das passende Wort?
Sille: Also früher waren wir „Die Behinderten“. Jetzt bezeichnen wir uns selbst als „Menschen mit Behinderung“. Es ist wichtig den Menschen in den Vordergrund zu stellen und die Behinderung als eine Sache dieses Menschens, aber nicht als die wichtigste. Sowas wie „Bist du behindert oder was?“ ist ja bei einigen Alltagssprache. Wenn ich das höre, dann rolle ich hin und sprech die Leute darauf an. Für mich ist das nicht so toll, wenn das so negativ genutzt wird. Wenn man mich das fragen würde, würde ich sagen „Ja, ich bin behindert“, bzw. noch besser „Ich habe eine Behinderung“, denn ich bin es nur manchmal. Behindert bin ich nur, wenn zum Beispiel eine Treppe im Weg ist, in vielen Alltagssituationen trifft das nicht zu und ich kann machen, was ich will.
Das vollständige Interview könnt ihr auf unserem Youtube Kanal finden: https://youtu.be/S5f6vhqWd9w